Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft

für Suchtkranke und Angehörige

Diözesanverband Freiburg e.V.

KreuzbundDiözesanverband Freiburg e.V.

Bericht: Angehörigen Seminar 2020

Zeit9.–11.10.2020
OrtBildungshaus St. Bernhard
ThemaZurück in mein Leben – zurück zu mir selbst
ReferentinPetra Dummermuth-Kress, AGJ Suchberatung Ettlingen
BerichtBärbel Kempermann, Ettlingen
BilderBärbel Kempermann, Ettlingen

2015 besuchte ich ein Frauen­seminar mit dem Thema Leben mit und ohne Maske. Ich konnte damals nicht ahnen, dass 5 Jahre später eine Maske, oder zeitgemäß ein Mund-Nasen-Schutz, im täglichen Alltag und somit auch bei unseren Kreuzbundseminaren dazu gehören würde. 2020 gilt die AHA-Regel: Abstand, Hygiene, Alltagsmaske.

Ich freue mich, dass das Angehörigen­seminar stattfindet. Das Hygienekonzept unseres Seminarhauses gilt für alle BesucherInnen und macht es möglich, dass wir uns zu dieser Veran­staltung treffen können. Wir als Angehörige sucht­kranker Menschen können auch unter Corona Bedingungen einen Blick auf uns selbst werfen. Unsere Probleme und Gefühle sind wichtig und dürfen nicht in der Abhängig­keits­erkrankung des Betroffenen untergehen.

Freitag

Unser Seminar beginnt mit einem gemeinsamen Abendessen. Ich treffe bekannte, aber auch 3 unbekannte Gesichter und bin gespannt auf das was da noch kommt.

In einem Duett von Max Giesinger und Lotte heißt eine Textpassage [1]:

Auf das, was da noch kommt.
Auf jedes Stolpern, jedes Scheitern.
Es bringt uns alles ein Stück weiter zu uns.
Auf das was da noch kommt

Zurück zu meinem Leben, zu mir selbst und unserem Seminar­thema.

Im Seminarraum sitzen wir im Stuhlkreis (jeder Stuhl ist für die Dauer des Seminars teilnehmergebunden) und bewundern die farbenfroh herbstlich gestaltete Mitte. Es kann losgehen.

Mit einem herzlichen Willkommen besonders an unsere Referentin Frau Petra Dummermuth-Kress von der AGJ Suchtberatung in Ettlingen starten wir mit einer Vorstellungs­runde: Jede(r) von uns nennt Eigenschaften oder Besonderheiten, die sie bzw. ihn auszeichnen. Was würde eine Freundin, ein Freund über mich sagen? Jede(r) von uns findet passende Worte zu sich und anschließend benennen wir unsere Vorstellungen zum Seminarinhalt.

Was ist mein Thema? Wir tragen zusammen:

Samstag

Für eine Teilnehmerin stellt sich die Frage: Wie kann ich meinem Partner vertrauen? Stimmt was er sagt? Ist mein Misstrauen gerechtfertigt? Was ist richtig?

Diese Zerrissenheit wird zur Endlosschleife. Um diese anzuhalten und um wieder klar denken zu können, kann es hilfreich sein ein Selbstgespräch, also einen inneren Dialog zu führen. Dabei geht es darum positiv mit mir selbst zu sprechen, an mich und an meine Fähigkeiten zu appellieren um gestärkt wieder handlungsfähig agieren zu können. Ich sage mir z.B.:

  • Vertraue wie bisher deinen Empfindungen
  • Was ich fühle stimmt
  • Ich finde eine Lösung

Eine weitere Möglichkeit um mich aus dem Gedankenchaos zu befreien, ist Selbstmitgefühl zu entwickeln. Mitgefühl mit sich selbst zu haben, bedeutet nicht in Selbstmitleid zu verfallen. Es bedeutet, dass ich liebevoll mit mir selbst umgehe und mir erlaube nicht perfekt zu sein. Ich darf mich trösten und mich fragen:

  • Was empfinde ich?
  • Was brauche ich gerade?

Wenn ich mir selbst Mitgefühl entgegenbringe, kann ich mich beruhigen und entspannter eine Situation angehen.

Passend hierzu halten wir jetzt kurz inne. Eine Achtsam­keits­übung führt uns durch unseren Körper — zu uns selbst und zu der anschließenden Einzelarbeit: Mein Leben. Dabei ordnen wir einschneidende Ereignisse chronologisch unserem Lebenslauf zu und halten positive, schöne, belastende und schwere, aber auch leichte und freie Momente fest. Was hat mich geprägt? Welche Gefühle haben mich begleitet? Das Ergebnis unserer Arbeit teilen wir mit einem oder auch zwei Gruppen­mitgliedern und stellen es anschließend der großen Runde vor. Auffallend hierbei sind viele Parallelen, die wir in unserer Beziehung mit Betroffenen erlebt haben:

  • Angst in verschiedenen Formen
    (um mich, um den Partner oder die Partnerin, um Dritte, um das finanzielle Auskommen, …)
  • Hilflosigkeit
  • Enttäuschung
  • Wut

und die Erkenntnis, dass eine Veränderung im Verhalten von uns oder das Einnehmen einer anderen Sichtweise unserem Lebensweg neue Impulse gegeben hat.

Wieder passend liest uns Petra eine Geschichte vor: Hector und die Brille von Pauline [2]:

Pauline zweifelt an sich und allem. Sie ist eine Frau ohne Selbst­bewusst­sein und betrachtet sich lediglich durch zwei Brillen. Eine Lupenbrille, die ihre Unsicherheiten enorm vergrößert, und eine andere, die ihre Erfolge ganz klein erscheinen lässt – so, als wenn man verkehrt herum durch ein Fernglas schaut. Mit der Hilfe ihres Psychiaters Hector gelingt es Pauline nach und nach ihre gewohnten Brillen zur Seite zu legen und sich nach einer besseren umzusehen. Dabei gilt:

  • Für Fehler und Schwachpunkte bitte keine Lupenbrille benutzen.
  • Erfolge und Qualitäten nicht durch ein umgedrehtes Fernglas klein machen.
  • Für einen Perspektivwechsel ist manchmal auch das Aufsetzen der Brille des Partners hilfreich.

Zuversicht hat oft mit dem Blickwinkel, aus dem man auf die Dinge schaut, zu tun. Wer je nach Situation die passende Brille aufsetzen kann, muss nicht schwarzsehen, sondern darf hoffnungsvoll nach vorn blicken.

Nach diesem philosophischen Blick folgt nun ein anderer Impuls: Der Spielfilm Zoey [3].

Wir sehen die 14-jährige Zoey, die den Rückfall ihres alkohol­kranken Vaters erlebt (die Eltern sind getrennt). Zoey möchte ihrem Vater helfen und muss erkennen, dass das nicht möglich ist. Der Alltag des Teenagers gerät ins Ungleichgewicht. Sie übernimmt neben der Verantwortung für sich selbst auch die Verantwortung für ihren Vater und ihren 8-jährigen Bruder.

Eindrucksvoll wird in dem Film das Leben des Kindes in einer sucht­belasteten Familie gezeigt. Wir ZuschauerInnen kennen aus der Angehörigensicht vieles von dem, mit dem Zoey zu kämpfen hat: Hilflosigkeit, Enttäuschung, Wut, Unzuverlässigkeit, Lügen, Angst. Darüber tauschen wir uns aus.

Eine kleine Fitnessübung schult unsere Sinne. Mit wiedergefundener Energie geht es in die letzte Einheit des Samstags. Woran erkenne ich, dass ich mitbetroffen oder co-abhängig bin? Wir sammeln hierzu Begriffe und jede von uns kennzeichnet 10 davon nach eigenem Zutreffen. Die meist Genannten:

Wir fühlen uns und wir sind:

  • Hilflos, machtlos, ängstlich, alleingelassen

Wir erleben, haben oder spüren:

  • Emotionalen Missbrauch, Erpressung
  • Trennungsgedanken
  • Klammern und Festhalten
  • Dinge für den Sucht­kranken übernehmen oder dessen Probleme lösen
  • Last auf den Schultern
  • Keine Kommuni­kation mehr möglich
  • Gefährdung der eigenen Gesundheit
  • Besänftigen, alles nach dem Betroffenen richten
  • Abpuffern nach außen
  • Aushalten
  • Vertrauensverlust
  • Kontrollverhalten
  • Sich selbst verlieren
  • Das Gefühl, gebraucht zu werden
  • Nicht Nein sagen können
  • Schuldgefühle

Sonntag

Wach durch eine Körperübung beschäftigen wir uns am letzten Seminartag mit unserer Haltung und Einstellung zu den unter­schied­lichen oben aufgeführten Gefühlen und Verhaltens­weisen.

Wie kann ich aus diesem immer wieder kehrenden Kreislauf ausbrechen? Wie kann ich mich abgrenzen?

Alles was die Sucht unbeabsichtigt fördert, bleiben lassen!

Glaubenssätze hierfür:

  • Verstehen, aber nicht hinnehmen
  • Ich kann nichts dafür
  • Ich bin nicht schuld
  • Ich liebe Dich und Du betrügst mich mit Deinem Suchtmittel
  • Ich kann Deinen Konsum nicht ändern
  • Ich drohe nicht – ich handele
  • Ich suche mir Hilfe
  • Ich ziehe Grenzen

Wie finde ich zu mir und was hilft mir dabei? Ich überlege was ich gerade brauche. Welche Bitte habe ich an mich selbst oder an einen anderen? Das könnte sein:

  • Selbsthilfegruppe oder Experten aufsuchen
  • Reden mit wohlwollenden Kritikern
  • Hobbys nachgehen
  • Entspannung suchen, ein Bad nehmen
  • Tee machen, Hund streicheln, kuscheln
  • Zwiegespräch mit mir selbst halten
  • Wichtige Dinge für mich tun
  • Mich um meine Gesundheit kümmern
  • Grenzen setzen: Ich bin dann mal weg und bin dann bei mir
  • Verantwortung abgeben, Loslassen

Ich habe schon viele der oben genannten Dinge ausprobiert – mit mehr oder weniger Erfolg. Wichtig ist mir nicht aufzugeben, sondern es immer wieder auf die eine oder andere Art zu versuchen. Hilfreich ist immer ein Blick auf mich selbst:

  • Was beobachte ich?
  • Was empfinde ich?
  • Was brauche ich in diesem Moment?

Wenn ich die aktuelle Lebenssituation aus einem anderen Blickwinkel betrachte, kann mir besser eine Lösung einfallen. Hierzu passt das Fazit der Pinguin Geschichte von Eckart von Hirschhausen[4]: Stärken statt Schwächen sehen. Hirschhausen sagt:

Mach es wie der Pinguin, finde dein Element.

Mit dieser Erkenntnis geht unser abwechslungsreiches Seminar zu Ende. Wir nehmen viele Eindrücke mit nach Hause und freuen uns über einen geschenkten Begriff: die doppelte Expertenschaft:

Ich bin Experte für mich selbst,
und nehme mir andere Experten zur Hilfe.

Wir hatten viel Spaß miteinander. Danke allen für die gute Zeit.

Nachbemerkung
Die Coronapandemie hat das Miteinander verändert. Wir wünschen uns alle ein Zurück zu unserem bekannten Leben. Bis es soweit ist, gilt es Geduld zu haben und Rücksicht auf andere zu nehmen.

Wie heisst es doch so schön:

Am Ende wird alles gut.
Und wenn es nicht gut ist,
ist es noch nicht das Ende.

Literatur

[1] Wikipedia: Duett von Max Giesinger und Lotte, Auf das, was da noch kommt

[2] François Lelord, Hector und die Kunst der Zuversicht; Piper Verlag (2018). ISBN 978-3-492-05628-1

[3] Blaues Kreuz, Zoe; Spielfilm (2015), 40 min., Medienprojekt Wuppertal.

[4] Eckard von Hirschhausen, Die Pinguin Geschichte (2012)

Buchtipp

Christine Hutterer; Problem: Alkohol; Stiftung Warentest Verlag, Berlin (2019). ISBN 978-3-7471-0111-7