Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft

für Suchtkranke und Angehörige

Diözesanverband Freiburg e.V.

KreuzbundDiözesanverband Freiburg e.V.

Hubert Grimming, Oberkirch

Bericht: Rollenspiel Seminar 2024

Zeit21.–23.6.
OrtSchön­statt­zentrum Marienfried
ThemaTräume, Wünsche und Visionen
ReferentinJanine Stark, Diakonie Oberschwaben Allgäu Bodensee
BerichtBerhard Heist

Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte, um meine Seminareindrücke zu Papier zu bringen, blätterte ich das Archiv durch und überflog noch einmal die Berichte zu den Rollenspielseminaren der vergangenen Jahre. Obwohl mir das Rollenspiel als Methode sehr vertraut ist, hatte ich bis dato noch nie einen Bericht zu einem Rollenspielseminar verfasst. Mich trieb die Frage um, wie andere Weg­gefährten es angegangen sind, all das rüberzubringen, was im Verlauf einer Psycho­dramasituation mit dem Protagonisten, den Mitspielern (Hilfs-Ichs), der Gruppe geschieht. Denn dass, vor allem emotional, so einiges geschieht, und zwar mit allen Gruppen­mitgliedern, stand und steht, nicht nur für mich, außer Zweifel.

Auch die Teilnehmerliste schaute ich mir, neugierig wie ich bin, im Vorfeld an. Ich war erstaunt so viele mir unbekannte Namen zu lesen. Beim Ankommen staunte ich noch einmal, und zwar über die jungen Gesichter, in die ich schauen durfte – ja durfte. Ich dachte sofort an frischen Wind, neue Ideen, interessante Lebens­geschichten. Und ich wurde im Verlauf des Seminars nicht enttäuscht. Dieses Seminar hat bleibende Eindrücke in mir hinterlassen und jetzt schon einen ganz besonderen Platz.

Als Einstieg und zum Kennen­lernen wählte unsere Referentin Janine Stark (Leiterin passt beim Psychodrama einfach besser) diverse Aufstellungen. Beim Aufstellen nach Süchten war ich mit meiner Neugier wieder richtig da und hellwach. Bestätigt sich die Tendenz auch bei uns im Kreuzbund, dass der Mischkonsum und damit die Polytoxikomanie gerade bei jüngeren Menschen auf dem Vormarsch sind? Die Antwort: definitiv ja.

Bei der nächsten Aufstellung ging es um die verstrichene Zeit seit dem letztmaligen Sucht­mittelkonsum und ein drittes Mal staunte ich nicht schlecht. Der Zeitraum erstreckte sich von 10 Tagen! bis zu 25 Jahren! Für Janine war dies sozusagen eine Steilvorlage für das weitere Vorgehen. Nachdem jeder einzelne in einem Kurzinterview mit ihr erzählte, welche Gründe und Auslöser dafür verantwortlich waren, dass er jetzt ausgerechnet hier stand, stellte sie die Schlüsselfrage, die nahezu alle Türen aufgehen ließ.

„Welche Fragen haben die ‚Frischlinge‘ an die anderen, vor allem an die ‚alten Hasen‘?“. Die Fragen kamen prompt und ohne Zögern. „Wie hast du es geschafft? Was hat dir am meisten geholfen? Was war besonders schwer? Hattest du einen Rückfall? Wer war dein Rückhalt? …“ Nahezu jede und jeder erzählte daraufhin, ohne Aufforderung, all das, was ihr und ihm aus seiner „Suchtkarriere“ dazu wichtig und wertvoll erschien. Auch ich, der ich mit etwas schwitzigen Händen und immer noch hellwach irgendwo dazwischen stand. Diese Phase des Seminars empfand ich als eine der wuchtigsten, nachhaltigsten und eindrücklichsten Passagen mit, gefühlt, Jahrhunderten an Lebenserfahrung.

„Was hat dir am meisten geholfen?“

Diese Frage nahmen wir genauer unter die Lupe und trugen zusammen, was für uns die wertvollsten Hilfen waren, unsere Kraft­quellen, um abstinent zu bleiben.

  • Meine Ehrlichkeit zu mir selbst (ich will mich nicht mehr belügen)

  • Meine Offenheit nach außen (mein Handicap ist der Alkohol, ich will das nicht mehr)

  • Meine Offenheit nach innen (ich will mir nichts mehr vormachen)

  • Meine Selbstliebe (ich bin es wert, Hilfe zu bekommen)

Und weiter: mein Hund, meine Aktivitäten, in Bewegung bleiben, der Kreuzbund, meine Frau, mein Glaube, mutig bleiben…

Geht da noch mehr? Was können diese Kraft­quellen noch? Welche Ziele lassen sich damit ins Visier nehmen? (Aha, dachte ich, so langsam nähern wir uns dem Thema des Seminars, unseren Träumen, Wünschen und Visionen). Unter Zuhilfenahme verschiedener Materialien aus Janines Fundus formulierten wir „unsere Ziele“.

Hier zwei schöne Beispiele:

  • „Scrat“ aus dem Film Ice Age als Symbol für: Ziele erreichen gegen alle Widerstände

  • Ein Phönix und ein Seil als Symbol für: Freiheit und immer die Zügel in der Hand behalten

Weitere Ziele, die genannt wurden: ich möchte alt werden, das Wohl der Familie, Kommuni­kation und Harmonie mit einem unterstützenden Partner, wie Pipi Langstrumpf sein, Durchatmen, Heilung erfahren, bedingungslose Liebe erfahren, Schlafen wäre gut.

Aus diesen Zielformulierungen konnten wir und auch jeder für sich nun mühelos herauslesen, wo der Hund begraben lag! Ist mein Ziel das Wohl des Familienverbandes, wird deutlich, dass die aktuelle Situation unbefriedigend und nicht im Lot ist. Wünsche ich mir eine respektvolle, achtsame Partner­schaft, schimmert durch, dass ich mich vernachlässigt fühle. Will ich die Zügel in der Hand haben, deutet dies darauf hin, dass andere mein Leben bestimmen. Suche ich Heilung, kann man vermuten, dass ich mit meinem Körper und/oder meiner Seele nicht im Reinen bin.

Ich brauche also nicht irgendwelche spektakulären Szenarien zu konstruieren, die ich mir genauer anschauen will. Meine Wünsche, Träume und Visionen zeigen mir, wo ich ansetzen muss. Es lag alles zu meinen Füßen!

„ Psychodrama“

So sensibilisiert und vorbereitet stiegen wir in die Psycho­dramen (Rollenspiele, Aufstellungen) ein. Als erstes brauchen wir dafür eine „Bühne“, das ist ein Bereich, in dem agiert wird. Dann natürlich das Wichtigste, die Protagonistin oder den Protagonisten, eine Person aus der Gruppe, die ausgehend von ihren Träumen und Wünschen, sich eine Lebenssituation ganz genau anschauen möchte. Als weiteren Eckstein bedarf es Janine, der „Leiterin“, die durch unter­schied­liche Methoden, Frage­stellungen, Impulse, Umstellungen usw. Bewegung in das ganze Gefüge bringt. Und es braucht „Mitspielende“ (Hilfs – Ichs) aus der Gruppe, die, und das ist wichtig zu wissen, nicht ausschließlich in die Rolle einer Person schlüpfen, sondern auch für Gefühle wie Mut, Selbst­bewusst­sein, Angst, Leidensdruck, Scham stehen oder darüber hinaus auch ein Suchtmittel z.B. Alkohol verkörpern können. Zu guter Letzt ist da dann noch die „Gruppe“, die Zuschauer.

Hier komme ich nun wieder auf den Anfang meiner Impressionen zu sprechen, wo ich behauptet habe, dass alle Beteiligten, auch die zuletzt genannte „Gruppe“, emotional und gefühlsmäßig immer mit eingebunden sind. Wie stark diese Einbindung sein kann, erlebte ich an diesem Wochenende an mir selbst und möchte versuchen, euch dies beispielhaft näherzubringen.

In einer der Aufstellungen wählte mich die Protagonistin als einen der „Mitspieler“ aus. Ich sollte die Rolle des Leidensdrucks übernehmen. Ich ging also in die Rolle hinein und war in der Ausgangssituation eng mit der Protagonistin verschmolzen. Durch Janines Eingreifen auf unter­schied­lichste Weise war die ganze Situation ständig im Fluss und veränderte sich immer stärker. Irgendwann verlor ich als Leidensdruck den engen Kontakt zur Protagonistin und irgendwann stand mir dann das Selbst­bewusst­sein auf den Füßen herum und nun geschah folgendes: vorweg sei noch gesagt, dass ein Mitspieler seine Position nur verlässt, wenn er durch die Leiterin dazu aufgefordert wird. Ich jedoch fand mich plötzlich einige Meter entfernt in einer Ecke wieder, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Die Erinnerung an diese Phase fehlt mir bis heute; ich weiß also nicht, wie ich in die Ecke gekommen bin. Ich erkläre mir das in diesem Fall so: ich, in der Rolle des Leidensdrucks habe im Verlauf dieses Psycho­dramas (Aufstellung) gespürt, dass hier für mich nichts mehr zu ist holen ist, dass ich nicht mehr „gebraucht“ werde. Also Folge dieser Wahrnehmung habe ich mich dann aus der Situation herausgenommen und mich unbewusst und ohne nachzudenken eigenmächtig zurückgezogen. Aus diesem Grund weiß ich auch nicht mehr, wie ich in die Ecke gekommen bin.

Für mich sind solche Erfahrungen nicht ganz neu. Seit etwa 3 Jahren nehme ich an solchen Aufstellungen teil und bin immer wieder beeindruckt, dass man selbst als sogenannter „Unbeteiligter“ immer ein lebendiger Teil des Ganzen ist und sehr davon profitieren kann.

Am Ende eines Psycho­dramas werden alle Beteiligten nach bestimmten Ritualen aus ihren Rollen wieder entlassen und zurückgeführt. Dass dies wichtig ist, versteht manch einer jetzt vielleicht besser. Zum Abschluss findet ein Austausch zu den erlebten und erfahrenen Eindrücken mit allen statt, also auch mit der „Gruppe“.

Durch Janine lernten wir im Verlauf des Seminars noch einige andere wertvolle Methoden und Herangehensweisen kennen, die sehr hilfreich sein können, wenn es darum geht problematische Situationen, Krisensituationen, Träume, Wünsche und Visionen genauer unter die Lupe zu nehmen oder auch mal eine „Leiche aus dem Keller“ zu holen. Ganz, ganz herzlichen Dank, Janine, für diese kostbaren Stunden.