Eigentlich sollte der Freitagabend nach einer kurzen Einführungsrunde und Infos zum Seminarablauf vor allem dem gemeinsamen Miteinander vorbehalten sein, aber dann kam sie doch noch. Die Frage, die uns wohl alle bereits im Vorfeld beschäftigt hatte:
Wann beginnt sie denn, diese zweite Halbzeit
Am Samstag machten wir uns gemeinsam auf den Weg, um nach Antworten auf diese Frage zu suchen. Wir stiegen mit einer Gruppenarbeit in die Thematik ein. Es ging darum noch einmal kurz innezuhalten, in sich hineinzuhören und zu überlegen, was mich letztendlich motiviert hat an diesem Seminar teilzunehmen.
- Neugier auf die zweite Halbzeit ?
- Klarheit darüber, wo ich gerade stehe ?
- Wie geht es weiter ?
- Welche Wünsche und Pläne habe ich noch ?
- Wer spielt eigentlich alles mit ?
- Oder …
Schon waren wir mittendrin und im Kopf und im Herz begann es zu arbeiten. Sehr bald wurde mir klar, dass die Antworten in uns selbst zu suchen sind und ganz individuell sein können. Wir fanden viele Bereiche wie Partnerschaft, Gesundheit, soziales Umfeld oder Beruf, die uns und unser Leben prägen. Da wünschen wir uns eben Klarheit, da wollen wir wissen wie es weitergeht, da gibt es noch Wünsche und Pläne in der Schublade, da haben wir noch ein Ziel vor Augen.
Also versuchte ich und jeder der Gruppe sich selbst auf die Schliche zu kommen, sein Leben zu scannen
. Wir suchten nach einschneidenden
Erlebnissen die Wendepunkte in unserem Leben waren. Ist so ein Wendepunkt der Beginn einer neuen Halbzeit? Ein Neuanfang? Wir fanden diese einschneidenden
Erlebnisse und Wendepunkte in unserem Leben und tauschten uns intensiv darüber aus.
Beim Zusammentragen der Ergebnisse im Plenum wurde recht deutlich, wie vielgestaltig die Bereiche sind, die mein Leben mitprägen oder mich beschäftigen wenn es um die zweite Lebenshälfte geht. So manche Stolpersteine gilt es aus dem Weg zu räumen. Und manche Ereignisse verhindern zunächst einen Neuanfang oder zögern ihn hinaus. Im Folgenden einige Beispiele, die den Aufbruch in eine neue Lebensphase beeinträchtigen können.
- Zweifel über den richtigen Weg
- gesundheitliche Probleme
- Berufswechsel
- Trennungen
- neue Mitspieler
- Einsamkeit
- unrealistische Ziele
- Sexualität: Versagensängste, unattraktiv sein
- emotionale Veränderungen
- Ruhestand
- nachlassende Kräfte
Vor der Mittagspause stellte uns Otmar dazu noch eine Studie vor, die sich mit der Altersgruppe 40–85 beschäftigte. Dabei zeigt sich, dass Männer zwischen 55 und 65 Jahren besonders problemträchtig sind. In dieser Zeitspanne hinterfragen viele ihr bisheriges Leben, vergleichen es mit ihrem Lebensplan und werden zu Suchenden. Als Folge dieser inneren Auseinandersetzung kann es verstärkt zu Krisen, Ängsten, wiederauftretenden Suchtverhaltensmustern bis hin zu Depressionen und psychosomatischen Störungen kommen.
Die Bereiche und Probleme, die dabei eine Rolle spielen decken sich mit den Ergebnissen aus dem vorangegangenen Plenum. Ergänzt seien noch die Bereiche
- Lebensstandard
- finanzielle Sicherheit
- Lebenszufriedenheit
- Freunde und Familie
Spätestens jetzt war ich richtig angekommen, denn viele dieser Themen sind auch meine Themen. In den Nachmittag stiegen wir wieder mit einer Gruppenarbeit ein. Es wurde konkreter. Wir gingen daran Antworten auf die Frage zu suchen:
Wie kann mein Lebensentwurf für die 2. Halbzeit gelingen
Persönliche Erfahrungen wurden eingebracht und verschiedene Lebensentwürfe unter die Lupe genommen. Das Resümee aus Gruppenarbeit und Plenum hatte folgendes Bild:
- Das Ende der Therapie und die damit verbundene Abstinenz sind am häufigsten Wendepunkt und Auslöser für eine neue Lebensphase. Familiäre Veränderungen, gesellschaftliche Zwänge oder gesundheitliche Aspekte spielen ebenfalls eine Rolle. Ich habe nie einen Plan gehabt — auch diese Aussage gab es.
- Beste Aussichten auf ein Gelingen habe ich, wenn ich mir Unterstützung hole. Therapie, Nachsorge, Selbsthilfegruppe wurden genannt. Mein soziales Umfeld pflegen, bewusst leben und Achtsamkeit. Einer formulierte es so: Ich muss mich breit aufstellen. Viele Standbeine, mich fest verwurzeln. Aber bei alledem - das oberste Gebot bleibt die Abstinenz.
- Wünsche gehören zu einem Lebensentwurf dazu. Sie sind Triebfeder und Motor. Sie halten den Lebensentwurf am Laufen. Am häufigsten wurden genannt: Gesundheit, ausgewogener Lebensstil, funktionierendes soziales Umfeld, Zufriedenheit und realistische Ziele.
- Auch ganz wichtig: Das Handwerkszeug welches mir hilft, meine Wünsche zu verwirklichen:
- mein Leben annehmen wie es ist
- widerstandsfähig bleiben (
Resilienz
) - Gelassenheit
- angst- und schuldfrei leben
- Fremdbestimmung vermeiden
- verpassten Chancen nicht nachtrauern
- Muße
- einfach mal fünf gerade sein lassen
- zufriedene Abstinenz
Dann bin ich ja jetzt gut gerüstet. Ein guter Plan und das Wissen wie ich ihn umsetzen kann. Dann wird es schon gelingen mit dem Lebensentwurf. Am besten jetzt nicht mehr viel am Rad drehen…
Von wegen! Was ist, wenn es Störungen oder Sondersituation gibt und die wird es geben. Hier sind Veränderungen
oder Korrekturen meist erforderlich oder sogar unumgänglich. Das bedeutet also, dass ich immer am Ball bleiben muss und mir nie sicher sein kann
das alles in trockenen Tüchern
ist.
Übrigens kann ich jederzeit selbst entscheiden, ob es Veränderungen geben soll. Ich bin der Regisseur und kann mein Drehbuch immer wieder umschreiben. Wer weiß — vielleicht beginnt damit eine dritte Halbzeit.
Nach einer Pause nutzten wir die verbleibende Zeit bis zum Abend dazu uns über das Lebensgefühl in den verschiedenen Lebensabschnitten ein differenzierteres
Bild zu machen. Wir beschäftigten uns mit einem Auszug aus dem Buch Die bessere Hälfte
von Eckart von Hirschhausen und
Tobias Esch
Ich versuche mal eine kurze Zusammenfassung: Glück ist etwas Dynamisches. Was wir in der Jugend als Glück empfinden ist nicht vergleichbar mit unserem Glücksempfinden im Alter. Die Autoren unterscheiden zwischen drei Arten des Glücks (Typ A,B,C), die wir im Laufe unseres Lebens durchlaufen. Dabei gibt es keine abrupten, sondern fließende Übergänge.
Das jugendliche Glück (Typ A) ist das Glück des Wollens. Das ist die Motivation, etwas erreichen zu wollen, der Appetit und die Vorfreude auf etwas, die Abenteuerlust, Eroberungen und Befriedigung, kribbelnde Situationen erleben und über mich hinauswachsen.
Das Glück im mittleren Alter (Typ B) ist das Glück des Vermeidens. Weg von Unangenehmem, weg von Stress und Leid, sich zurückziehen, die Tür hinter mir schließen (my home is my castle), auf- und durchatmen. Diese erleichternden Momente sind in dieser Phase die wahren Glücksmomente.
Ab der Mitte des Lebens wartet, ich nenne es mal das Glück der Zufriedenheit auf uns (Typ C). Es ist das Gefühl genau richtig zu sein, am richtigen Ort, genau da, wo ich sein möchte. Ich habe weder Sehnsucht oder Appetit, noch habe ich Angst oder Fluchtgedanken. Es ist eher ein innerer Friede. Ich verspüre eine Art Glückseligkeit. Es ist die Freude darüber, dass alles passt.
Bei allem Wenn und Aber das mir dabei in den Sinn kommt ist es doch ermutigend, dass diese Orientierung zu Typ C hin, zur Zufriedenheit, in uns allen biologisch angelegt ist. Es ist der Weg, der evolutionär vorgegeben ist. Sofern wir den Autoren glauben dürfen.
Ein Artikel aus der Zürcher Zeitung
Die Neuorientierung weckte um so mehr mein Interesse. Was in dem Artikel dazu gesagt wurde fand ich bemerkenswert, erhellend, ermutigend und so wichtig, dass ich einiges hier wiedergeben möchte:
- Unsere Zeitorientierung ändert sich: Wir denken nicht mehr in Lebensjahren nach der Geburt, sondern in Zeiten, die uns noch zum Leben bleiben.
- Tatsache ist, dass ab der Lebensmitte die Perspektive auf rund vierzig Lebensjahre besteht – genug Zeit, um die Möglichkeiten einer Neuorientierung auszuloten.
- Die im Alter zunehmende Kraft der Gelassenheit hilft bei der Bewältigung der unterschiedlichsten Herausforderungen und lässt die Zufriedenheit wachsen.
- Umbruchphasen sind nicht nur negativ, sie bergen auch große Chancen. Sie machen auch aufmerksam und offen für Neues.
- Proaktivität ist die Fähigkeit Visionen zu entwickeln, ohne den Realitätssinn zu verlieren. Viele Menschen lernen diese Fähigkeit erst, wenn sie durch schwere Krisen gegangen sind.
- Durch Krisen lernen wir zufriedener und bescheidener zu sein – vor allem aber auch gelassener gegenüber dem, was das Leben für mich noch bereit hält.
- Forschungen zeigen, dass die vielfältigen Herausforderungen und Umbrüche des mittleren Alters von der Mehrheit der Betroffenen als Chance gesehen werden.
Vor diesem Hintergrund sollte uns also nicht bange sein um unsere persönliche Zukunft. Genau betrachtet, ist das mittlere Lebensalter auch eine wunderbare Gelegenheit mit der Kraft der Gelassenheit meinem Leben einen neuen Sinn zu geben und die Weichen für die zweite Halbzeit zu stellen. Die Kurve der Lebenszufriedenheit geht ja dann – statistisch – wieder bergauf.
Zum Abschluss unseres Seminars schauten wir gemeinsam mit Otmar noch einmal auf die vergangenen Jahre zurück. Seit 2003 war er der Mann, ohne den kein Männerseminar beim Kreuzbund über die Bühne ging. Viele Erinnerungen wurden wieder wach und ein bisschen Wehmut mischte sich auch darunter. Danke Otmar — für Alles.
P.S. Allabendlich trafen sich wackere Männer, um sich zu einer Exkursion in Richtung Stadtmitte Oberkirch aufzumachen. Ziel war das dortige Eiscafe. Das Ziel wurde an beiden Tagen erreicht und das Seminar trug bereits Früchte. Nach jedem Besuch zeigten die Teilnehmer schon erste Anzeichen von Gelassenheit und Zufriedenheit.
Nachtrag des Referenten
Nach dem Deutscher Alterssurvey (DEAS) des BMFSFJ zeigt sich die Altersgruppe 55-66 als besonders problemträchtig. In dieser Phase kommt es verstärkt zu einer Evaluierung des eigenen Lebensverlaufs vor dem Hintergrund des Selbstkonzeptes *, des persönlichen Sinnsystems. Dies kann bei dem betroffenen Personenkreis zu krisenhaften Zuspitzungen, psychsomatischen Störungen, Ängsten, Depressionen, Wiederauftreten von süchtigen Verhaltensmustern etc. führen.
Themenbereiche sind meist:
- Lebensstandard – finanzielle Sicherheit
- Familie – soziale Einbindung – Freundeskreis
- Arbeit / beruf – Wohnsituation – Freizeit
- Gesundheit – Sexualität
- Ruhestand – Leben im Alter
- Lebenszufriedenheit allgemein
- Diskrepanz zwischen geplanter un realisierter Ruhestandsphase
* Selbstkonzepte sind nicht nur von individuellen Möglichkeiten / Fähigkeiten abhängig, sondern auch von soziokulturellen Rahmenbedingungen, Lebenswelt / -alltag, Beziehung, Sprache etc.
Literatur
[1] Eckart von Hirschhausen, Tobias Esch: Die bessere Hälfte, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek,
[2] Pasqualina Perrig-Chiello, Die Mitte des Lebens – Zeit der Bilanzierung und der Neuorientierung; Neue Zürcher Zeitung, 5.6.2013
[3] Claudia Vogel, Markus Wettstein, Clemens Tesch-Römer (Hrsg.): Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte; Springer VS, Wiesbaden,